Als Eytan Shouker und Eldad Cidor ihr „Pen-Pal Projekt” in Biella an der Fondazione Cittadellarte ausstellten, hatte der gegenwärtige tragische israelisch-arabische Konflikt noch nicht begonnen. Zur gleichen Zeit waren damals auch andere israelische Künstler bei uns zu Gast, mit denen uns heute eine tiefe Freundschaft und ein Gefühl der Solidarität verbindet.
Ich kam gerade aus Israel, wo ich Gast der Bezalel-Kunstakademie gewesen war. Jerusalem hatte mich am tiefsten beeindruckt.
Ich machte dort eine intensive, seelische Erfahrung durch, inspiriert durch den wunderbaren Charakter dieser Stadt. Jeder Stein erinnert uns an die Vergangenheit und fügt sie nahtlos in die Gegenwart ein, als geschehe alles im Hier und Jetzt.
Die Essenz der Zeit wird durch die Intensität des gegenwärtigen Augenblicks wahrgenommen, durch das Wiedererleben in der Gegenwart. Die Geschichte liegt nicht in der fernen Vergangenheit, sondern ist Teil des alltäglichen Lebens.
Wie wunderbar ist es, die Gebäude und Bauten sehen zu können, die Düfte zu riechen, die Geschmäcker auf der Zunge zu spüren und die Klänge und Stimmen der arabischen Tradition zu hören, die sich mit denjenigen europäischen Ursprungs vermischen. Wie bestürzend ist dagegen der Zusammenprall zwischen einer hochentwickelten modernen Gesellschaft und einem radikalen Fundamentalismus. Doch das Beeindruckendste an dieser Stadt sind all die Bauten und Gebäude, die gemeinsam von den verschiedenen Kulturen und Religionen zeugen, welche wir sonst nur als weit auseinander liegend, getrennt und zutiefst verschieden wahrnehmen.
Ich hatte das Gefühl an den Wurzeln des großen Stammbaums der Menschheit zu stehen, von dem ich selbst ein Blatt oder eine Frucht bin. Dieser uralte Baum, von dem alle Zivilisationen und alle Kulturen des Nahen Ostens und Europas abstammen, sollte eigentlich für einen einzigartigen „Garten der Menschheitsgeschichte” stehen. Doch leider bleibt diese Vorstellung nur ein Traumbild. Es ist eine Vision des Paradieses, die nur für einen Moment aufflackert, bevor sie sich nach wenigen Augenblicken, angesichts der tragischen Realität, die wir Tag für Tag im Fernsehen mitverfolgen, verflüchtigt. Dort, in den Straßen, zwischen den Leichen von Israelis und Palästinensern, werden wir die Zeugen eines tragischen Blutvergießens.
Warum muß dieses Land, das alles Edle des menschlichen Geistes repräsentieren könnte, von den grausamsten und niedrigsten Instinkten überwältigt werden? Das ist die Frage, die sich Künstler wie Eytan, Eldad, unsere Freunde Tal und Liron, die an unserem „In-Residence” Programm teilnehmen, und palästinensische Schriftsteller wie Al-Aili, stellen. In diesem Geiste haben Eytan und Eldad ihr großes Kunstwerk geschaffen.
Es ist ein Bespiel dafür, wie sich die Kunst verändert
hat. Noch vor wenigen Jahren wurden Kunstwerke vor allem bewundert und verehrt. Das „Pen-Pal Projekt” belegt, wie Künstler mittels ihrer Kreativität das Leben ihrer Gemeinschaft beeinflußen können.
Leider können die Künstler ihre Arbeit in ihrem Land heute nicht weiter fortsetzen, weil ihre Arbeit eine Brücke bildet, die zwei Völker, Israelis und Palästinenser, miteinander verbindet. Der Krieg hat diese Brücke zwischen den Völkern zerstört, und heute kann man nur unter größten Anstrengungen von einer Seite auf die andere gelangen. Es ist deswegen von größter Wichtigkeit, das „Pen-Pal Projekt” in Europa vorzustellen, um damit dieser Form von Kunst als „Widerstand” gegen die zerstörerischen Wunden, die dieser wahnsinnige Konflikt schlägt, eine Fortsetzung zu ermöglichen. Es ist ein Versuch, einen einfachen menschlichen Kontakt zwischen diesen beiden Völkern wieder herzustellen, die auf tragische Weise durch Interessen, die für dieses winzige Land viel zu groß sind, auseinandergerissen wurden.
Eytan und Eldad haben Einwegkameras an 500 Jugendliche verteilt, je zur Hälfte an Israelis und an Palästinenser. Die Jugendlichen wurden gebeten, Bilder aus ihrer Welt und ihre persönlichen Gedanken auszutauschen. Die Ergebnisse waren überraschend und berührend. Eytan und Eldad haben diesen Jugendlichen Mittel zur Kommunikation, zum gegenseitigen Kennenlernen und zum Erlernen einer möglichen Koexistenz in die Hände gegeben. Leider füllen heute andere diese Hände mit Werkzeugen des Hasses und der Verachtung.
Der Wille und Glaube vieler Künstler hat nicht ab-, sondern eher zugenommen und dabei den Samen einer neuen Philosophie gesät: Der Glaube, Kunst könne die „Liebe für das Anderssein” herbeiführen, eine Liebe, die wiederum über die Unterschiede zwischen Kulturen, Rassen und Religionen hinweg helfen soll.
Der unabhängige Geist des Künstlers scheint naiv und hilflos angesichts der brutalen Macht und Gewalt, mit deren Hilfe Machthaber regieren und Probleme lösen wollen und dazu die verabscheuungswürdigsten Mittel einsetzen.
Doch es ist gerade diese scheinbare Naivität des Künstlers, die neue Erkenntnisse ermöglicht und den allgegenwärtigen menschlichen Irrsinn hinter sich läßt. Die Offenheit und der Glaube an Veränderung sind die treibenden Kräfte hinter großen Taten. Heute kann man nur noch mit Hilfe dieser Naivität an die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen glauben.
Künstler wie Eytan, Eldad und andere sind wahre Helden. Sie sind Teil eines weltweiten Netzwerks, das sich das Schaffen einer neuen, besseren Gesellschaft zum Ziel gesetzt hat. Die kreative Arbeit mit Menschen jeden Alters und Geschlechts, jeder sozialer Herkunft und Nationalität, bedeutet für Eytan und Eldad, Kunst im kollektiven Bewußtsein zu verankern.
Es ist dennoch von größter Bedeutung, daß sich auch vorhandene Institutionen an der Arbeit der Künstler beteiligen, entweder indem sie ihre Arbeit offiziell unterstützen oder indem sie sich aktiv an verantwortungsvollen gesellschaftlichen Veränderungen beteiligen. Der Weg, den Eytan Shouker und Eldad Cidor eingeschlagen haben, unterscheidet sich von einer egozentrischen und sich selbst beweihräuchernden Kunst, die unvermeidlich ein System sozialer Verantwortungslosigkeit unterstützt.
Shoukers und Cidors Arbeit ist dagegen direkt mit dem Leben der Gemeinschaft verknüpft, und ihr Hauptinteresse gilt dem zwischenmenschlichen Kontakt. Die Fotografie dient ihnen als Mittel zum Austausch von Werten und soll eine Symbiose zwischen den Menschen ermöglichen. Dies erlaubt uns nicht nur, den „anderen” kennenzulernen, sondern ermuntert uns, es dem „anderen” gleichzutun, das Leben des „anderen” zu leben und uns so weit wie möglich von unserer eigenen Person und unseren eigenen Überzeugungen zu entfernen. Dieses „Anderssein” ist die Grundlage von Eytans und Eldads Kunst.
Und am Ende werde ich mich in dem anderen ebenso wiedererkennen wie er sich in mir wiedererkennt.

August 2002
Michelangelo Pistoletto
www.cittadellarte.it

Michelangelo Pistoletto
ist Multimedia-Künstler und Gründer der Cittadellarte in Biella, Italien
is a multimedial artist and founder of Cittadellarte, Biella, Italy


Kunst als gesellschaftliche Verantwortung
Art as a Social Responsibility

When Eytan Shouker and Eldad Cidor exhibited their “Pen-Pal Project” here in Biella at the Cittadellarte, the current, tragic Israeli-Palestinian conflict had not yet begun. At the same time, we hosted several other Israeli artists, with whom we established a strong friendship and a sense of solidarity. I had just returned from a visit to Israel, where I had been a guest of the Bezalel Academy of Art.
It was in Jerusalem that I had the most intense emotional experience, evoked by the prodigious nature of this city’s character. Each and every stone there reminds us of the past, while incessantly transporting this past into the present, to be lived once again in the here-and-now.
The essence of time is perceived through the intensity of the moment, to be re-lived in the present. Thus history is not to be found in the remote past, but is completely part of everyday life.
How wonderful to view the buildings and edifices, smell the perfumes, feel the tastes, and hear the sounds and voices of Arab tradition intermingle with those of unmistakably European origin. How startling is the recognition of the encounter between the most advanced progress of modern society with the most radical fundamentalism. But nothing made a greater impression on me than the sight of all the monuments, rising in unity to give testimony to different cultures and religions, which we apprehend as separate, divergent and far-apart. I sensed that it is here that the roots of the great, genealogical tree, of which I also am a leaf or a fruit, are firmly implanted. This ancient tree, into which all civilizations have been grafted, and from which stem all Middle-Eastern and Western cultures, should form the extraordinary garden of the history of humanity. This image remains, unfortunately, only in the realms of my fantasy. It is a vision of paradise, which lingers only for a fleeting moment and then immediately recedes in the face of the tragic reality that we all view daily on our TV screens. There, in those streets,
amongst the corpses of Israelis and Palestinians, we witness the tragic shedding of human blood.
Why is it that a land, which could represent all that is noble in the human spirit, should end overtaken by that which is most vile and despicable? This is the question that artists like Eytan, Eldad, our friends Tal and Liron, who took part in our ‘in-residence’ programme, as well as the Palestinian writer Al-Aili ask themselves constantly. It is in this spirit that Eytan and Eldad have created their great work of art, which is an example of how art has changed and has evolved into something quite different from what it used to be, only a few years ago, when it was a mere object of admiration and veneration.
The “Pen-Pal Project” is a work of art proving that the artists, through their creativity, can make a direct impact on the life of the community.
Today, they unfortunately cannot continue this work in their country, because their art represents a bridge that unites two peoples, Israelis and Palestinians. Today, one can no longer cross this bridge, which has been destroyed by the war. An enormous effort is required to pass to the other side.
It is virtually impossible. It has therefore become of even greater importance to exhibit the “Pen-Pal Project” in Europe, to continue the labor of art as “opposition” to the devastating lacerations inflicted by this insane conflict. An attempt must be made to re-establish a simple, human contact between the people, tragically divided by interests too vast to be contained in the narrow space of this tiny country. Eytan and Eldad distributed disposable cameras to five hundred children, half of whom were Israeli, and the other half Palestinian. They were encouraged to exchange pictures of their day-to-day lives and share their thoughts. The results were surprising and moving. They put into the hands of these children the means to communicate, to get to know one another
and to learn to co-exist. Regrettably, others fill these
hands today with instruments of hatred and contempt.
The will and faith of many of us artists does not diminish but increases and sows the seeds of a new philosophy. The belief that art will be instrumental in bringing about “love for the otherness”, which will in turn help to eliminate the differences between cultures, races and religions.
The free spirit of the artist seems naïve and helpless in the face of brute force and might, used by the “powers that be” to rule and resolve certain problems, without hesitating to employ the most heinous instruments of war.
True as this may be, it is the apparent naiveté of the artist which opens up a space for new insight, set apart from the realm of human madness. The candor of those who believe that a change is possible is the driving force of great deeds.
Today, it is only with naiveté that one can believe in responsible, social changes. To be an artist like Eytan, Eldad and others like them, is to be a veritable hero and means being part of a network of people throughout the world who are devoted to the idea of creating a new, more civilized society. To work creatively with people, irrespective of their gender, age, social background and country, means for Eytan and Eldad, raising art to the level of the collective consciousness. It is nevertheless of great importance that existing institutions participate in the work of the artist, either by guaranteeing the artists work or by contributing actively to the effort of bringing about responsible, social changes.
The path taken by Eytan Shouker and Eldad Cidor differs from the egocentric, insular and self-laudatory art that inevitably supports a system of social irresponsibility. Their activity is directly involved in the life of the community and their main concern is for personal contact. They use photography as a means of exchanging values and achieving a symbiosis between people. Not only do they enable us to become familiar with the “Other”, they encourage us to become the “Other”, to live the experience of being the “Other”, moving as far away as possible from our own persona and our own beliefs. The “Otherness” is the basis of their art.
In the end, I recognize myself in them as much as they see themselves in me.

August 2002
Michelangelo Pistoletto

www.cittadellarte.it